Es ist einer dieser Sätze, die sich durch Jahrzehnte gezogen haben wie ein alter Zopf:
„Zwei Finger müssen zwischen Geschirr und Tier passen – dann sitzt es richtig.“

Diese Regel begegnet uns überall: in Hundeschulen, bei Pferdeausstattern, in Foren, ja sogar in manchen Bedienungsanleitungen für Katzengeschirre. Aber woher kommt sie eigentlich?
Die sogenannte Zwei-Finger-Regel stammt aus dem Pferdesport – genauer gesagt aus der Sattelkunde und der Trenseneinstellung. Dort galt (und gilt) sie als grober Orientierungswert, um beispielsweise den Druck am Nasenriemen zu prüfen oder die Lage des Sattelgurts einzuschätzen. Später wurde sie in den Hundebereich übernommen – etwa für Halsbänder, Geschirre oder Maulkörbe. Und auch dort diente sie nie der exakten Biomechanik, sondern war ein alltagstauglicher Kompromiss für große Tiere mit viel Gewebe, Muskel- und Fellpuffer.
Doch dann kam sie in der Katzenwelt an. Und wurde unkritisch übernommen. Von Herstellern. Von Shops. Von Trainer:innen. Oft ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, ob sie überhaupt zur Katze passt.

Warum die Regel für Katzen schlicht nicht funktioniert
Katzen sind keine Pferde. Und keine Hunde im Kleinformat. Sie sind biomechanisch, anatomisch und bewegungstechnisch eine völlig eigene Spezies. Und was bei einem 35-Kilo-Hund mit dicker Haut und tiefliegender Muskulatur funktioniert, scheitert bei einem 4-Kilo-Federkörper auf ganzer Linie.
Denn:
• Zwei Finger quer zwischen Gurt und Körper entsprechen bei Katzen oft mehreren Zentimetern Abstand – das ist mehr als der gesamte Rumpfdurchmesser bei zierlichen Rassen.
• Ein so „lockerer“ Gurt hat keinerlei Führung mehr: Er rutscht in die Achsel, ins Weichgewebe, in den Schritt oder verdreht sich bei Bewegung.
• Gerade bei Sicherheitsgeschirren verhindert dieser Spielraum oft den sicheren Sitz – denn ein Gurt, der nicht am Körper bleibt, kann ihn auch nicht sichern.
Und das sagen wir nicht aus Prinzip, sondern aus Erfahrung – und aus zahllosen Gesprächen mit Herstellern, die sich hinter dieser „Regel“ verschanzen wie hinter einer goldenen Gurt-Bibel.
„Das macht man so.“
„Das war schon immer so.“
„Das steht überall so.“
Mag sein. Aber Katzenspaziergänge standen früher auch nirgends.
Zeit für einen Perspektivwechsel
Katzen sind nicht das Tier, für das diese Regel gemacht wurde. Also ist es auch nicht die Regel, an der wir unsere Ausrüstung ausrichten sollten.
Ein Katzengeschirr darf nicht mit Reitmaßstäben bewertet werden, sondern muss sich am Katzenkörper orientieren. Und der braucht: Präzision. Nähe. Ruhe. Anatomie – nicht Schätzung.
Darum setzen wir auf die Mittelfinger-Technik. Nicht als neue Regel, sondern als besseren Weg. Weil sie sich nicht auf Fingerbreiten verlässt, sondern auf spürbare Strukturen: Achsel. Rippe. Bewegungsspielraum.

Fazit: Altes loslassen – Neues denken
Es braucht nicht noch mehr Daumenregeln. Es braucht Verständnis für Körperbau, Bewegungsdynamik und Sicherheitsrisiken bei Katzen. Wer wirklich katzengerecht arbeiten will, muss den Mut haben, alte Denkmuster zu hinterfragen – und neue, bessere Wege zu gehen.
Katzenspaziergänge sind neu.
Also dürfen auch die Methoden neu sein.
Und genau deshalb gilt bei uns:
Ein Finger dick – eng, sicher, körpernah. Keine zwei quer. Keine alten Zöpfe.

Woran erkenne ich, ob das Geschirr wirklich gut sitzt? – Und warum manche Katzen trotzdem Nein sagen dürfen
So. Jetzt haben wir ausführlich darüber gesprochen, wo ein Gurt sitzen sollte, wie man ihn einstellt, und was an der Zwei-Finger-Regel nicht stimmt. Aber mal ehrlich: Auch wenn das anatomisch alles passt, kann es trotzdem sein, dass deine Katze sagt:
„Nö. Fühlt sich blöd an.“
Und das ist okay.
Denn so individuell wie der Körperbau, so unterschiedlich ist auch das Körperempfinden. Es gibt Katzen, die sind am Bauch einfach sensibler – etwa am hinteren Rippenbogen oder entlang der Linea alba. Manche haben schlechte Vorerfahrungen. Manche mögen einfach keinen Gurtkontakt. Und auch wenn das Geschirr korrekt auf dem Rippenbogen sitzt – nicht jede Katze findet das angenehm.

Klarheit bringt der Blick aufs Gangbild
Wenn du wissen willst, ob das Geschirr nicht nur anatomisch korrekt, sondern auch für deine Katzeokay ist, schau nicht auf den Gurt. Schau auf die Bewegung.
Ein gut sitzendes Geschirr macht sich beim Laufen unsichtbar.
Was du sehen solltest:
• Die Schrittfolge ist flüssig – Vorder- und Hinterläufe greifen weit aus, berühren sich fast (wie auf dem berühmten Schnappschuss aus dem Galopp, den wir alle im Kopf haben).
• Die Schulter schwingt frei, der Ellbogen kann nach hinten rotieren, ohne gegen einen Gurt zu stoßen.
• Die Achsel bleibt frei – kein Gurt scheuert, baumelt oder streift sichtbar beim Gehen.
• Die Katze läuft gerade, rhythmisch, mit Körperspannung – nicht breitbeinig, verkürzt oder wie in Zeitlupe.
Wenn der Gurt dagegen beim Rückführen der Vorderbeine in die Achsel schlägt, der Schritt kürzer wird, die Katze sich schüttelt, sich hinlegt oder sich ständig im Gurt wälzt – dann passt etwas nicht. Und zwar nicht unbedingt von der Größe her, sondern von der Körperakzeptanz.
Und ja: Manchmal ist das ein Bauchgefühl – im wahrsten Sinne.
Denn so wie bei uns Menschen gibt es auch bei Katzen Bereiche, die einfach empfindlicher sind. Bei manchen ist es der Rippenbogen. Bei anderen die Flanken. Manche haben kaum Unterfell. Andere einen beweglichen Hautsack (Primordialbeutel), der bei bestimmten Gurten unangenehm spannt. Manche sind muskulös, andere weich. Und manchmal ist alles anatomisch korrekt – und trotzdem fühlt es sich für die Katze nicht richtig an.

Was tun, wenn’s trotz korrektem Sitz nicht passt?
Kompromisse. Keine Notlösungen – sondern echte Alternativen:
• Rückenlänge leicht anpassen – damit der Gurt ein bisschen weiter vorne sitzt (aber immer noch auf dem Rippenbogen!).
• Schmalere Gurte probieren, um Druck auf kleinerer Fläche zu reduzieren.
• Zwischenzeitlich mit H-Geschirr mit Brustgurt arbeiten, wenn der zweite Gurt dauerhaft stört.
• Mehr Trainingszeit einplanen, um die Gurtberührung zu entkoppeln – mit Leckerlis, kurzen Sessions, und ohne gleich aufzugeben.
• Und wenn alles nichts hilft?
Dann akzeptieren: Diese Katze braucht ein anderes Modell. Kein Drama. Nur ein Signal, gut hinzusehen.
Fazit: Anatomie ist die Grundlage – aber deine Katze entscheidet
Ein korrekt eingestelltes Geschirr ist kein Garant dafür, dass es sich auch gut anfühlt. Darum beobachten wir. Passen an. Hören zu. Und finden gemeinsam das Modell, das nicht nur funktioniert, sondern sich gut anfühlt.
Denn wie bei uns Menschen gilt auch bei Katzen:
Was theoretisch passt, muss praktisch nicht bequem sein.
Und wenn das bedeutet, mal neu zu denken, anders zu messen oder mit weniger Gurt zu arbeiten – dann tun wir das.
Weil du deine Katze kennst.
Und sie es dir zeigt – mit jedem Schritt.